Besseres Leben für alte Menschen in den Quartieren – Diskussion im Medienhaus
Das Leben der Menschen spielt sich in den Kommunen ab: Und deshalb brauchen wir eine quartiersnahe Versorgung alter und hilfsbedürftiger Menschen – mit sozialen Kontakten, Einkaufsmöglichkeiten, Ärzten und einer guten Nahversorgung. Fehlen diese Angebote in den Stadtteilen, besteht insbesondere die Gefahr der Vereinsamung und Isolation.
Der 7. Altenbericht wurde in seiner Ausrichtung und seinen Forderungen von allen Beteiligten des Podiums bestätigt, allerdings trifft er keine Aussagen dazu, wie eine langfristige Finanzierung der kommunalen Aufgaben und Mitverantwortung gewährleistet werden kann. Während das Land in begrenztem Maße Mittel zur Verfügung stellt, zum Beispiel für die Quartiersentwicklung, halten es alle Beteiligten für erforderlich, ebenso finanzielle Unterstützung aus Mitteln des Bundes und der Pflegekasse für eine langfristige Sicherung guter Lebensverhältnisse zu erhalten. Nur so seien der demografische Wandel entsprechend zu gestalten und die Bedarfe älterer Menschen zu decken.
So lautete das Fazit der Podiumsdiskussion im Mülheimer Medienhaus. Eingeladen hatte am 3. April 2017Ulrich Schallwig, Vorsitzender der AG 60 Plus der SPD, zum Thema „Alt werden in Deutschland. Der 7. Altenbericht der Bundesregierung: Kommune in der Verantwortung!?“ Schallwig forderte dazu auf, die Chancen des Alters stärker zu betonen, nicht nur die Risiken. Schließlich seien nur ein geringer Anteil der Senioren pflegebedürftig. „In Mülheim sollen alle Menschen in Würde älter werden können“, griff er eine zentrale Forderung der Dialog-Offensive Pflege auf.
„In Mülheim sind schon einige der Forderungen des Altenberichtes verwirklicht worden.“
„In Mülheim sind schon einige der Forderungen des Altenberichtes verwirklicht worden, aber es gibt weiterhin viel zu tun“, waren sich prominente Gäste wie NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens, die Bundesvorsitzende der AG 60 Plus, Angelika Graf, und der Bochumer Sozialwissenschaftler Professor Rudolf G. Heinze einig. „Wir müssen von den vielen Projekten zu dauerhaften Finanzierungsstrukturen kommen“, betonten auch Jörg Marx, zuständig für die soziale Bedarfsplanung des Sozialamtes und die damit verbundene Netzwerk- und Projektentwicklung, sowie Sascha Jurczyk, Vorsitzender des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales der Stadt Mülheim an der Ruhr.
Während der eigentliche Anlass für die Veranstaltung der 7. Altenbericht war, ging es in der anschließenden Diskussion um ganz konkrete Fragen zu den Lebensverhältnissen älterer Menschen in unserer Stadt: unter anderem um Handlungssicherheit für ein Gemeinschaftswohnprojekt sowie die Aufgaben des Netzwerks der Generationen und der kommunalen Pflegestützpunkte.
Anlass für die Veranstaltung war der 7. Altenbericht der Bundesregierung, der nach einjähriger Debatte am 4. April 2017 in Berlin vorgestellt wurde. Sein Titel: „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften“. Die Altenberichtskommission gibt darin Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige kommunale Altenpolitik.
Angelika Graf lobte den 7. Bericht als „den konkretesten“. Er stelle dar, dass „die Kommune die Arbeit des demografischen Wandels macht“. Der Bund müsse die Kommunen besser unterstützen, damit diese mehr für ältere Pflegende tun könnten. Denn die „Alten“ umfassen dank steigender Lebenserwartung inzwischen zwei Generationen: 65- bis 70-Jährige pflegen ihre 90-jährigen Eltern.
Verschiedene Lebenslagen der „Alten“ erfordern differenzierte Antworten
Soziologe Rudolf Heinze verdeutlichte, dass die Lebenslagen und Bedürfnisse der Senioren heute sehr verschieden seien: Die „68-er“ möchten teils in Alten-WGs leben, die erste Generation offen lebender Schwule und Lesben kommt in die Jahre, (geistig) behinderte Senioren wollen adäquat versorgt sein, betagte Arbeitsmigranten benötigen eine kultursensible Pflege.
Heinze kritisierte – wie alle Beteiligten – dass die Unterstützung und Pflege alter Menschen zu wenig vernetzt sei: Für Gesundheitsversorgung, Pflege und Wohnen sind viele verschiedene Akteure verantwortlich, haupt- wie ehrenamtliche. Gemeinden, Ärzte, Krankenkassen, Pflegefachkräfte, Wohnungseigentümer und weitere Zuständige müssten viel enger kooperieren, damit jeder alte Mensch rundum versorgt sei und zugleich selbst über sein Leben bestimmen könne. Die dringend erforderliche quartiersnahe Versorgung sei außerdem viel preisweiter als die stationäre. Seine Forderung heißt: „Silos überwinden – durchlässige Formen entwickeln“. Heinze: „Investitionen in die Nachbarschaft lohnen sich.“
Kommunen brauchen mehr Unterstützung, um Teilhabe zu ermöglichen
Ministerin Barbara Steffens betonte, dass Land NRW setze viele im 7. Altenbericht empfohlene Maßnahmen bereits um. Die zentrale Frage laute: „Was wollen die Menschen im jeweiligen Quartier?“ Die Mülheimerin warnte eindringlich vor zunehmender Isolierung im Alter. „Senioren brauchen Teilhabe und jeden Morgen einen Grund, um aufzustehen.“ Da sich das soziale Leben in den Kommunen abspiele, müssten diese von Bund und Ländern finanziell und rechtlich in die Lage versetzt werden, entsprechende Maßnahmen zu steuern. „Ich gehöre zum geburtenstarken Jahrgang 1962 und wir müssen jetzt die Strukturen dafür schaffen, dass wir im Alter nicht in Zehn-Bettzimmern gepflegt werden.“ Steffens mahnte zudem, wir alle müssten den Umgang mit demenziell veränderten Menschen lernen, um ihnen beispielsweise helfen zu können, wenn sie sich verirrt hätten. Teilhabe gilt auch für sie und das erfordert eine selbstverständliche Kultur der Hilfsbereitschaft.
Alle Generationen sollen die Seniorenangebote in den Stadtteilen kennen
Sozialplaner Jörg Marx, Moderator der Dialog-Offensive Pflege, gab einen kurzen Überblick über die Seniorenpolitik in Mülheim. Die Stadt habe die Aufgabe, Ressourcen zu bündeln und „die Lufthoheit zu behalten“. „Wir haben noch keine verbindliche Pflegeplanung, aber wir sind auf dem Weg“, erklärte Marx. Ein Ziel sei, die zahlreichen bestehenden Angebote in den unterschiedlichen Stadtteilen allen Generationen bekannter zu machen, etwa einen Pflegestützpunkt in der Kita vorzustellen. „Die Menschen interessieren sich erst für Senioren-Angebote, wenn jemand aus der Familie betroffen ist. Das muss sich ändern. Mein Job besteht darin, Begegnungen zu schaffen.“
Die Dialog-Offensive Pflege habe vielfältige Aufgaben zu bewältigen und müsse „dicke Bretter bohren“. Nur ein Beispiel: Gelange ein 80-Jähriger als Notfall ins Krankenhaus, komme er vielleicht „nie wieder heraus“. Hätte der behandelnde Notarzt direkten Zugriff auf ein Hilfssystem mit ambulanter Pflege u.a., ließe sich das vermeiden.
„Wir müssen immer bei der Würde und der Lebensqualität der Menschen ansetzen“, stellte Jörg Marx abschließend noch einmal klar. Bei der kommunalen Umsetzung von Empfehlungen – wie denen des 7. Altenberichts der Bundesregierung – müsse die Frage grundsätzlich lauten: „Was hat der Einzelne im Stadtteil davon?“
Text: Gudrun Heyder